Datenwirtschaft mit Gaia-X: Wette auf eine bessere Zukunft

Von Nils Klute, Projektmanager Kommunikation EuroCloud Deutschland

Gaia-X treibt die Datenökonomie voran – und stellt die Wirtschaft auf die Probe. „Digitale Wertschöpfung setzt auf Kooperation, Kollaboration und Koopetition“, sagt Michael Jochem, Mitglied im Vorstand bei Gaia-X. Was Daten- und Landwirtschaft gemein haben. Und warum sich der Wert von Daten bemessen lassen muss, damit Gaia-X zündet.

eurocloud.de: Herr Jochem, seit kurzem sind Sie Mitglied im Gaia-X-Vorstand. Was ist Ihre Aufgabe?

Michael Jochem: Das Board of Directors hat sich aus 26 Expert:innen neu gewählt zusammengesetzt, um ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was Gaia-X erreichen soll. Im Dialog mit dem Management entwickeln wir jetzt Leitplanken für die operative Umsetzung.

Worauf kommt es da beispielsweise an?

Etwa darauf, wie wir es bereits jetzt schaffen, Provider zu motivieren, erste Gaia-X-Dienste aufzusetzen. Mit den Federation Services, deren Spezifizierung über den eco Verband unterwegs ist, lässt sich allein noch kein Geld verdienen. Aber sie schaffen die Basis, um Daten souverän teilen, bereitstellen und automatisiert weiterverarbeiten zu können.

Warum automatisiert?

Beispielsweise warten die Chancen der Datenökonomie nicht auf Ergebnisse juristischer Prüfungen. Egal, ob allgemeine Geschäftsbedingungen, Geheimhaltungsvereinbarungen oder Compliance: Gaia-X-Dienste müssen sich automatisch rechtskonform verbinden lassen.

Wie gelingt das?

Über Standards! In einem standardisierten Ökosystem lassen sich alle Funktionen, Angebote und Dienste wie Bausteine modular integrieren. Sie machen die interoperablen Systeme und intelligenten Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 überhaupt erst möglich.

Und wie verdient die Industrie 4.0 mit Standards Geld?

Etwa über Geschäftsmodelle, bei denen Hersteller:innen ihre Maschinen nicht mehr verkaufen, sondern vermieten. Kund:innen bezahlen nur noch nach Verbrauch oder pro produziertem Teil. Smarte Services wie diese setzen intelligente Anlagen voraus, die in der Lage sind, Daten standardisiert verarbeiten und teilen zu können.

Apropos Daten teilen: Wie bereit zeigt sich die Wirtschaft?

Jeder ist willens, einen Use Case aufzusetzen, um etwas auszuprobieren. Jedoch sind nur wenige bereit, Daten mit Dritten zu industrialisieren. Firmen fürchten um ihre eigenen Interessen und möchten diese vor dem Wettbewerb geschützt wissen. Aber das verteilte und vernetzte Datenökosystem von Gaia-X zündet nur, wenn Unternehmer:innen umdenken.

Inwiefern?

Digitale Wertschöpfung setzt auf Kooperation, Kollaboration und Koopetition. Teils läuft das Marktprinzipien entgegen, die seit Jahrhunderten als gesetzt galten. Koopetitive Modelle sind noch nicht in der Wirtschaft angekommen. Das mag auch daran liegen, dass die Geschäfte gewissermaßen eine Wette auf eine bessere Zukunft sind. Diese Wette lässt sich nur gewinnen, wenn alle mitmachen.

Heißt genau?

Teilen ist die Grundlage für Reichtum. Der Schriftsteller Marc Elsberg hat 2019 ein Buch veröffentlicht, dass die Idee des sogenannten Kooperationsplus über die Bauernfabel bekannt gemacht hat. Die Fabel geht auf eine Arbeit des London Mathematical Laboratory zurück. Sie beschreibt, wie Bäuer:innen profitieren, wenn sie ihre Ernte kooperativ teilen, statt nur für sich selbst zu wirtschaften. Wenn jeder mehr aussähen kann, steigt der Ertrag für alle. Nicht anders verhält es sich mit Daten! Aber das funktioniert nur, wenn sich jeder auf die Wette einlässt. Und das erstmal ohne konkrete Gewinnaussicht.

Wie lässt sich das lösen?

Ob Anlagen, Immobilien oder Risiken – Firmen sind es gewohnt, Werte bemessen, abschreiben und über die Finanzbuchhaltung verrechnen zu können. Jedoch fehlen bislang Mechanismen, um den Wert von Daten zu bestimmen. Wer Informationen teilt, verschneidet, veredelt und zu datenbasierten Services raffiniert, von denen Dritte profitieren sollen, muss ihren Preis kennen. Ein erster Schritt, damit Gaia-X zündet. Vorausgesetzt, wir lassen Daten nicht ungenutzt in Silos liegen und verabschieden uns von proprietärem Besitzstandsdenken.

Wie proprietär denkt die Wirtschaft?

Es ist schön, wenn einzelne Hersteller:innen einen Machine-as-a-Service realisieren. Oft sind diese jedoch nur erfolgreich, weil sie Kund:innen in eine Lock-In-Situation zwingen. Standards sind die Lösung, um Lock-Ins zu verhindern und offene Ökosysteme zu realisieren, in denen datenbasierte Services firmenübergreifend florieren. Was Anwender:innen freut, stellt das Denken der Wirtschaft auf die Probe: Wer standardisierte Komponenten fertigt, macht sich in gewissem Sinne austauschbar. Aber wer nicht auf Standards setzt, der fährt eben nur seine eigene Ernte ein und lässt das mögliche Kooperationsplus aus Daten ungenutzt liegen.

Wie kann ein kooperatives und kollaboratives Geschäftsmodell in der Industrie 4.0 aussehen?

Die Plattform Industrie 4.0, in der ich mich als Arbeitsgruppenleiter engagiere, hat im Sommer 2020 einen neuen Use Case vorgestellt: Collaborative Condition Monitoring zeigt, welche Werte sich schöpfen lassen, wenn alle ihre Daten teilen und nutzen. Tauschen Hersteller:innen, Zulieferer:innen und Anwender:innen ihre jeweiligen Informationen multilateral aus, lassen sich Maschinen zuverlässiger und langfristiger betreiben. Die Basis für das Kooperationsplus: eine vertrauensvolle, transparente, offene und souveräne Infrastruktur, wie sie Gaia-X bereitstellen wird. Und eine unternehmerische Denkweise, die verstanden hat, worauf es heute ankommt.

Heißt konkret?

Wir haben für fast jedes Problem heute eine technische Lösung! Mit der Verwaltungsschale, dem digitalen Zwilling der Industrie 4.0 stehen eine Spezifikation und erste Referenzimplementierungen bereit, um Verfahren, Entitäten und Assets in der Industrie 4.0 standardisiert beschreiben, abbilden und steuern zu können. Und mit Gaia-X steht eine Infrastruktur für die Gesamtwirtschaft bereit, um Prozesse übergreifend zu orchestrieren und datenbasierte Produkte und Services zu realisieren. Jetzt kommt es darauf, die Vorbehalte der Unternehmer:innen aufzulösen, damit sie sich auf die Wette einlassen.

Und worauf wetten Sie?

Darauf, dass die Wirtschaft schnell versteht, wie sich Werte kooperativ schöpfen lassen. Und darauf, dass wir es schaffen, den Wert von Daten zu beziffern. Beispiel Collaborative Condition Monitoring: Welchen Preis ein datenbasierter Dienst haben kann, lässt sich vielleicht auch durch die Höhe der Kosten bemessen, die sich einsparen lassen. Produktverbesserungen und Erhöhung der Verfügbarkeit der Maschinen und Anlagen, wenn wir Informationen multilateral durch Gaia-X fließen lassen, das sind zwei Ideen von vielen, über die wir jetzt nachdenken müssen.

Wir danken für das Gespräch!

 

Zur Person

Michael Jochem ist Director Chief Digital Office Industry bei der Robert Bosch GmbH. Jochem blickt auch mehr als 30 Jahre Erfahrung im Bereich der industriellen Automatisierung in verschiedenen Funktionen bei der Bosch Rexroth AG und der Robert Bosch GmbH zurück. Er ist Mitglied im Board of Directors der Gaia-X AISBL und im Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0, wo er die Arbeitsgruppe „Sicherheit vernetzter Systeme“ und die Projektgruppe „Collaborative Condition Monitoring (CCM)“ leitet. Darüber hinaus ist Jochem Vorsitzender beim Arbeitskreis „Cybersicherheit“ im Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V. Jochem hat sein Studium als Diplom-Informatiker mit Nebenfach BWL an der TU Darmstadt abgeschlossen.

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