„Cloud-Angebote sollten sich nicht in Konkurrenz ausschließen, sondern produktiv ergänzen“
von Thomas Sprenger
Es wurde im Vorfeld viel über die EU-Cloud oder einen europäischen Hyperscaler gemutmaßt. Was ist denn GAIA-X tatsächlich?
Jedenfalls kein neues Amazon oder Google, also keine europäische Kopie, die den amerikanischen oder chinesischen Cloud-Anbietern Konkurrenz machen soll. Die Initiative GAIA-X will gemeinsame Regeln und Standards für eine Dateninfrastruktur in Europa schaffen – und, wo nötig, offene technische Lösungen entwickeln, um diese Standards umzusetzen. An diesem Ökosystem können sich nicht nur Cloud- und Edge-Anbieter aus der EU beteiligen, sondern auch Provider aus Übersee und Fernost, sofern sie sich den gemeinsamen Regeln anschließen.
Was ist der Zweck dieser Initiative?
EU-Bürger, Unternehmen und Behörden sollen in diesem technischen Ökosystem erstens immer die Hoheit über ihre Daten behalten. Der Datenaustausch zwischen Geschäftspartnern oder zwischen Bürgern und Plattformen muss sicher, datenschutzkonform und denselben Regeln für alle folgen. Zweitens sollen Nutzer Datendienste im GAIA-X-Netzwerk freier miteinander kombinieren und verknüpfen können. Dann wären auch, anders als heute, Aufwand und Risiken eines Anbieterwechsels überschaubar. Drittens soll GAIA-X den technischen Wettbewerb um digitale Lösungen in Europa stärken. Wir brauchen einen Markt, der nicht zwangsläufig auf wenige Monopole hinausläuft, sondern eine breite Vielfalt an Innovation hervorbringt, und zwar von mehr als einer Hand voll Anbietern. Alle Menschen in der EU sollen sich auf dieses Regelwerk verlassen können. – Schauen wir dagegen auf den Cloud-Markt heute mit all seinen Anbietern und Königreichen, mangelt es genau daran: technischen, kommerziellen und rechtlichen Standards.
Die Standards werden heute in den USA gesetzt. Wendet sich GAIA-X letztlich doch gegen die Konkurrenz aus Übersee?
GAIA-X trägt der strategischen Bedeutung der Cloud-Technologie für Volkswirtschaften und Gesellschaften in Europa Rechnung. Es gibt die großen, marktbeherrschenden Cloud-Plattformen, vor allem aus dem Silicon Valley. Diese Hyperscaler, wie z. B. Amazon, Google oder Microsoft setzen mit ihrer Marktmacht Standards und Regeln – aber vor allem innerhalb ihres Angebots und für ihre Kunden. Zwischen den großen Plattformen gibt es hingegen technische wie kommerzielle Gräben.
Das ist nichts Ungewöhnliches im Wettbewerb um technische Lösungen. Wo liegt das Problem?
Tatsache ist: Wenige Privatunternehmen von außerhalb der Europäischen Union bestimmen die Regeln für unsere digitale Dateninfrastruktur. Zudem geraten ihre Kunden, also Unternehmen und Bürger in der EU, zwangsläufig in eine Abhängigkeit von diesen Anbietern. Die Fähigkeit, große Datenmengen zu verarbeiten und auszutauschen, ist zu wichtig für Europa, als dass wir uns hierbei vollständig den Regeln einzelner Monopole ausliefern sollten. Antworten auf Fragen zur Datensouveränität, zur Kooperationsfähigkeit unserer Unternehmen, zum Schutz unserer Privatsphäre sollten wir nicht passiv abwarten wie Apple-Fans die Features des nächsten iPhones. Wir müssen uns aus der Unmündigkeit lösen, gar nicht mehr mitbestimmen zu wollen. Der Kerngedanke der EU ist die Zusammenarbeit nach gemeinsamen Regeln. Genau solche Regeln brauchen wir für den digitalen Binnenmarkt. GAIA-X bringt dazu alle an einen Tisch: die Anwenderunternehmen, die Cloud-Anbieter aus Europa und auch die Hyperscaler.
Sind Monopole nicht das zwangsläufige Ziel digitaler Geschäftsmodelle?
Im Cloud-Markt kämpft heute jeder Anbieter für sich: um technologische Vorreiterschaft und um Marktanteile. Große und kleine Provider stellen sich so auf, dass sie möglichst das ganze IT-Budgets des Kunden für ihre Dienste akquirieren. Jeder will den Kunden ganz für sich allein. Und das gilt nicht nur für die Hyperscaler.
In der Breite führt das aber zu einer Monokultur des Angebots. Nischendienste, die sich auf besondere Anwendungen z.B. in der Industrie oder im Gesundheitswesen spezialisieren, tun sich in einem solchen Marktumfeld schwer. Dabei haben in Europa viele IT-Provider und Cloud-Anbieter als Spezialisten angefangen. Diese Vielfalt sollten wir erhalten und wiederbeleben, anstatt über die immer selben Standardangebote zu konkurrieren. Auf diesem Feld sind die großen Cloud-Plattformen tatsächlich unangefochten.
Integrieren wir hingegen die Hyperscaler mit vielen spezialisierten Anbietern in GAIA-X, gibt das jedem die Chance, sich auf seine Stärken zu konzentrieren. Kleinere Provider überlassen Commodity- und Massendienste den Hyperscalern und konzentrieren sich selbst auf Spitzentechnologie und Innovation in der Nische für Industrie, Mittelstand, Forschung und Verwaltung.
Wir müssen die Cloud als Infrastruktur für die digitale Ökonomie und Gesellschaft begreifen. GAIA-X will der Idee des Netzwerks und der Kooperation Geltung verschaffen in der Cloud.
Bietet die Cloud nicht schon heute eine globale Dateninfrastruktur?
Es gibt eben nicht DIE Cloud. Das bekommen Kunden dann zu spüren, wenn sie mit ihren Daten und Programmen von einer Plattform zu anderen umziehen oder Dienste verschiedener Anbieter kombinieren wollen, Stichwort Multi-Cloud. Oder eine gemeinsame Infrastruktur für den Austausch von Daten brauchen.
Für ganze Volkswirtschaften und Gesellschaften macht die Cloud Sinn, wenn sie mehr ist als eine ausgelagerte Festplatte: Nämlich eine Infrastruktur, die wir teilen, indem wir darüber mit anderen kooperieren, arbeitsteilig produzieren, Handel treiben, verwalten, lernen, heilen und forschen.
Dazu brauchen wir große Massenanbieter. Aber auch: viele kleine spezialisierte Dienste. GAIA-X will ein Ökosystem schaffen, mit dem wir in Europa unterschiedliche Datendienste miteinander vernetzen. So erhalten wir eine viel größere Bandbreite an technischen Lösungen und Alternativen. In diesem Netzwerk können etwa Unternehmen sehr viel besser ihre Geschäftsprozesse und Wertschöpfungsketten nachmodellieren. Das heißt: Cloud-Angebote sollten sich nicht nur in Konkurrenz ausschließen, sondern produktiv ergänzen.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Nehmen Sie die vernetzte Industrieproduktion: Innovation entsteht in Deutschland und Europa häufig im Verbund, das heißt innerhalb von Wertschöpfungs- und Lieferketten. Diesem europäischen Innovationsnetzwerk fehlt heute die nötige digitale Infrastruktur.
Ein Auto zum Beispiel ist ein Gemeinschaftswerk vieler Unternehmen. Und schon heute tauschen diese Partner nicht nur Waren aus, sondern auch Daten. Aber die Kooperation ist vergleichsweise statisch und bürokratisch festgelegt. So müssen die Bedingungen für den Datenaustausch bilateral ausgehandelt werden. Die Beteiligten setzen dazu auf proprietäre und hausgemachte Lösungen. In Zukunft aber läuft Industrieproduktion viel flexibler ab: Die Zahl der Partner wird wachsen, Kooperationen werden sich schneller und kurzfristiger knüpfen und wieder lösen. Darum brauchen wir eine Infrastruktur, auf der Unternehmen über verschiedene Diensteanbieter hinweg sensible Daten sicher und in Echtzeit austauschen und verarbeiten können.
Warum braucht gerade Europa eine eigene Initiative?
In Sachen Netzinfrastruktur sind wir in Europa ausgezeichnet aufgestellt. So betreibt eine Tochter des Internetverbands eco in Frankfurt den größten Internetknoten der Welt. Wir schaffen es wunderbar, Daten durch Europa und in die Welt zu transportieren. Dagegen tun wir uns schwer damit, diese Daten in Europa auch zu verarbeiten. Hier haben wir den Anschluss an die technische Entwicklung verloren oder kämpfen gegenwärtig darum, ihn zu halten, wie etwa auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz.
Der Bedarf besteht übrigens genauso für Patientendaten im Gesundheitswesen, bei der ökologischen Umgestaltung unserer Städte, in der Forschung oder bei der Digitalisierung unserer Verwaltung. Wir brauchen einfach mehr Offenheit in der Cloud und zugleich eine Basis für vertrauensvollen Austausch und die Sicherheit unserer Daten.
Hat eine solche Initiative überhaupt eine Chance bzw. was ist nötig für den Erfolg von GAIA-X aus Ihrer Sicht?
Wirtschaftlich gesehen ist Europa ein Riese. Die gebündelte Nachfrage der Europäer kann heute niemand ignorieren. Ein gutes Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung. Die neuen europäischen Regeln zum Datenschutz sind heute weltweiter Goldstandard für die Privatsphäre im Netz. Warum sollten europäische Regeln nicht ebenso für die Kooperation in der Cloud gelten?
Voraussetzung ist allerdings, dass wir die wichtigen Beteiligten ins Boot holen, Dazu gehören ausdrücklich auch die großen Plattformbetreiber, besonders aus den USA. Sie sind ja nicht aus dem blauen Himmel heraus zu Marktführern geworden, sondern haben sich diese Position auch durch Innovationskraft und gute technische Lösungen erarbeitet. Nur gemeinsam mit ihnen werden wir ein Ökosystem aufbauen, das genug Nutzer anzieht und so die nötige Größe gewinnt, um Standards zu setzen.
Was sind aus Ihrer Sicht mögliche Defizite von GAIA-X?
Die Beteiligten sind ein Punkt: Die relevanten Cloud-Anbieter sind mittlerweile an Bord, auch Anwenderunternehmen aus der Industrie. Es fehlen die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Ins Leben gerufen wurde die Initiative von zwei deutschen Bundesministerien. Aber unsere Partner in Europa werden nicht glücklich sein, wenn die Deutschen zu sehr im eigenen Saft schmoren und schon wesentliche Punkte vorgeben.
Die nationale Startaufstellung berührt noch einen weiteren Aspekt: das Geld. Mit 25 Millionen Euro, so heißt es, sei die Finanzierung der Initiative für den Anfang gesichert. Angesichts des Anspruchs und der Komplexität in einer Multi-Milliardenindustrie mit Auswirkungen für 450 Millionen Europäer sind 25 Millionen Euro kaum angemessen.
Was schlagen Sie vor?
GAIA-X gehört auf die europäische Ebene. Die Initiative darf nicht zwischen Wirtschafts- und Forschungsministerium stecken bleiben. Der Zeitfaktor ist hier entscheidend. Angedacht ist ja die Gründung einer europäischen Organisation. Das muss jetzt umgehend passieren. Diese Gesellschaft sollte mit den nötigen Mitteln ausgestattet werden und ferner der Europäischen Kommission unterstehen, die alle Partner in Europa einbindet. Anders lässt sich auch nicht die große Zahl an Teilnehmern aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft organisieren. Denn auf europäischer Ebene wird der Kreis noch wachsen.
Damit ist aber Deutschland nicht aus der Verantwortung – im Gegenteil. Wir brauchen mehr Engagement von allen Ebenen des deutschen Staates. Bund, Länder und Kommunen müssen zu Vorreitern für GAIA-X werden und diese Infrastruktur selbst nutzen – also beispielsweise die Bundes-Cloud ins Netzwerk integrieren! Nur so entsteht das nötige Vertrauen für GAIA-X.
Welche Rolle kann die EuroCloud im Rahmen der Initiative einnehmen?
Die EuroCloud als europäischer Verband und mit ihren nationalen Dependancen ist bestens vernetzt in Wirtschaft und Politik, wir kennen den Cloud-Markt und auch den Bedarf der Anwenderunternehmen und Privatnutzer. Wir können wesentlich dazu beitragen, die richtigen Köpfe und Interessen zusammenzubringen und Impulse für die Ausgestaltung des GAIA-X-Ökosystems geben.