Von Thomas Sprenger
Netflix oder Zalando wären ohne Public Cloud undenkbar. Und der deutsche Mittelstand? Der fasst inzwischen Vertrauen in die Wolke, fehlten nicht überall Cloud-Experten. Eine neue Sorte IT-Dienstleister könnte diese Lücke schließen: Hoch spezialisierte Start-ups bieten ihre Dienste ausschließlich auf Infrastrukturen der Hyperscaler an. Das Problem: Die Nachfrage ist viel größer als das Angebot. EuroCloud will den Cloud-Native-Anbietern jetzt eine eigene Stimme geben und so einem besseren Verständnis für das Potenzial der Public Cloud den Weg ebnen. Ein Interview mit Dr. Nils Kaufmann und Thomas Noglik zum Start der neuen Cloud-Native-Initiative von EuroCloud.
Digital Natives kennen nur ein Leben mit Internet. Cloud Natives sind also Eingeborene der Cloud-Economy. An welche Art von Unternehmen richtet sich die EuroCloud mit ihrer Initiative?
Thomas Noglik: Es sind allesamt junge und kleine Unternehmen, die weniger als hundert Mitarbeiter beschäftigen. Keines ist mehr als zehn Jahre am Markt. Viele davon Start-ups. Das Besondere: Sie sind hochspezialisiert. Cloud von der allerersten Sekunde, keine eigenen Rechenzentren, keine technischen Altlasten. Zu ihren Kunden gehört nicht nur der Mittelstand, sondern auch Dax-Konzerne. Ihr Spezialwissen ist in der gesamten Wirtschaft gefragt.
Dr. Nils Kaufmann: Wenn Sie ins Handelsregister schauen, dann baut das Geschäftsmodell dieser Unternehmen zu 100 Prozent auf den Infrastrukturen der Hyperscaler auf. Cloud Natives bieten typische IT-Services an wie Beratung, Entwicklung, Training und Managed Services. Aber sie setzen ihre Dienste ausschließlich auf den großen Public Clouds von Amazon, Microsoft und Google um. Solche Unternehmen leben die Cloud, und niemand kennt sich so gut mit der Public Cloud aus wie diese Pioniere.
Cloud Native steht also für eine radikale Partnerstrategie spezialisierter Dienstleister, die ausschließlich auf die Public Cloud setzen. Was macht diesen Ansatz relevant für Unternehmen?
Noglik: 63 Prozent der Unternehmen nutzen bereits die Public Cloud, insofern scheint die Cloud-Native-Botschaft angekommen. Aber wirklich verstanden ist sie noch nicht: Weil die Unternehmen getrieben sind. Weniger im Handel, vor allem in der Industrie und bei klassischen Dienstleistungen. Ereignisse wie die Corona-Krise erhöhen den Druck noch. Überall lesen Unternehmer und Manager: Ihr müsst digitalisieren! Die Angst, zu spät zu kommen, herrscht vor. Es fehlt die Einsicht in die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten und den eigentlichen Wertschöpfungsbeitrag der Public Cloud.
Kaufmann: Dieser Einsicht entgegen steht ein traditionelles Verständnis von Informationstechnik. Besonders im Mittelstand bedeutet digitale Technologie immer noch: Hardware-Infrastruktur, Server, Rechenzentren. Ihr Betrieb ist aufwendig und darum auf möglichst wenig Veränderung ausgelegt, denn Abweichungen von der Routine verursachen Aufwand, etwa das Beheben von Fehlern oder das Aufspielen von Updates. So wie die Maschinen, sollen letztlich auch die Betriebsprozesse möglichst gleichförmig und optimal laufen. Es ist eine bürokratische Sichtweise, die einseitig auf Effizienz ausgerichtet ist. Mit demselben Blick schauen Unternehmen auf die Cloud: Sie soll technisch und betriebswirtschaftlich vom Betrieb eines eigenen Rechenzentrums entlasten. Der Rest ist die alte IT-Welt – nur ferngesteuert.
Welche neue Sichtweise bringen die Cloud Natives ein?
Kaufmann: Sie haben verstanden, dass Digitalisierung Wertschöpfung aus Daten ist. Diese neuen Dienstleister haben sich völlig von den Problemen des Rechenzentrumsbetriebs gelöst, weil ihre Dienste auf den Ebenen oberhalb der Infrastruktur ansetzen. Sie helfen ihren Kunden etwa nicht nur, eine Geschäftssoftware in der Public Cloud zu betreiben, sondern auch: Daten zu gewinnen, zu vernetzen, zu teilen, zu analysieren und daraus neue Geschäftsfelder zu erschließen. Es geht eben nicht mehr nur darum, einen ERP-Server störungsfreier und billiger zu managen. Cloud Natives schauen nicht mehr auf das Blech. Sie sind Spezialisten für die Wertschöpfung aus Daten. Das macht ihren Beitrag so wichtig für die Digitalisierung.
Noglik: Durch ihre profunde Kenntnis der Cloud-Ökosysteme bedienen sie sich souverän aus den Microservice-Bibliotheken von Amazon, Microsoft und Google, orchestrieren Cloud-Dienste der verschiedenen Hyperscaler und halten den Überblick über die Innovationen, die die großen Plattformen im irrwitzigen Takt veröffentlichen. Besonders kleine und mittlere Unternehmen haben hier gar keine Chance, sich aus eigener Kraft auf dem Laufenden zu halten.
Sie heben die Rolle des Mittelstands heraus. Was brauchen kleine und mittlere Unternehmen für eine effektive Digitalisierung ihres Geschäfts?
Noglik: Der Mittelstand macht unsere Industrie- und Dienstleistungskultur einzigartig. Im internationalen Vergleich ist die deutsche Wirtschaft sehr speziell: zahllose Weltmarktführer aus der Provinz, klein im Vergleich zu Großkonzernen, aber in ihrer Fokussierung und Expertise unerreicht. Eine Wirtschaft mit solchen Spezialisten können sie nicht mit Standardrezepten transformieren. Dazu brauchen sie Dienstleister, die ebenso spezialisiert sind und sich in die Branche und das Geschäft ihrer Kunden hineindenken. Die Bereitschaft dazu setzt natürlich ein gewisses Maß an Augenhöhe voraus. Das heißt, wir brauchen neue Mittelständler, die den gewachsenen Mittelstand digitalisieren!
Kaufmann: Genau in diese Richtung entwickeln sich die Cloud Natives in Deutschland: Mittelständische Dienstleister, die eher dicke Bretter bohren, statt sich als Generalist aufzustellen. Es gibt Spezialisten für Massendatenanalyse, künstliche Intelligenz, Internet of Things oder Managed Services. Das Angebot ist atomistisch, und hier liegen auch die Probleme der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Marktes.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Cloud Natives?
Kaufmann: Bedarf und Nachfrage sind derzeit viel größer als das Angebot an Cloud-Native-Diensten. Der Markt ist so groß, dass es keine wirkliche Konkurrenz gibt, aber auch kein Bewusstsein einer eigenen Branche. Es fehlt eine Plattform. Die Cloud Natives haben ebenso Schwierigkeiten, sich bei den Hyperscalern Gehör zu verschaffen, wie Zugang zu bekommen zu den Wertschöpfungsnetzwerken der etablierten Wirtschaft. Zumal Unternehmen für Cloud-Projekte oft mehrere Cloud-Native-Spezialisten brauchen. Als Zehn-Mann-Truppe tue ich mich naturgemäß schwer, mich bei großen Projekten einzubringen oder bei Themen wie der GAIA-X-Initiative, bei der gerade die Expertise der Cloud Natives wertvoll wäre.
Wie will EuroCloud hier unterstützen?
Noglik: Wir bieten Cloud-Native-Unternehmen Zugang. In unserem Netzwerk treffen sie sowohl auf Entscheider der großen Hyperscaler als auch auf potenzielle Kunde. Wir bieten ihnen eine Plattform, auf der sie sich zudem untereinander vernetzen und ein Bewusstsein für ihre entstehende Branche entwickeln. Und als Mitglied von EuroCloud können sie in den Arbeitsgruppen der Initiativen wie GAIA-X ihren Sachverstand beisteuern und die Rahmenbedingung für den digitalen Binnenmarkt in Europa direkt mitgestalten.
Kaufmann: Auch auf der Ebene des Tagesgeschäfts finden Cloud Natives bei uns Unterstützung. Als junge Unternehmen kämpfen sie mit den typischen Herausforderungen von Start-ups: Neben Zugang und Reichweite müssen sie steile Lernkurven bewältigen. Wir helfen bei Regularien und Compliance, bei Zertifizierungen, bei der Produktentwicklung und beim Austausch von Best Practices. Gemeinsam wollen wir auch Qualitätsstandards für Cloud-Native-Dienste erarbeiten. Zu unserem Programm gehören neben der Interessenvertretung auch Beratung und Workshops, runde Tische und Networking-Events.
Noglik: Als Verband wollen wir unseren Beitrag zum Aufbau dieser Branche leisten, damit Cloud-Native-Dienste im deutschen Markt sichtbarer werden. Zugleich wollen wir potenziellen Kunden die Entscheidungsfindung bei der Wahl geeigneter Anbieter erleichtern.
Wer kann bei der Cloud-Native-Initiative mitmachen?
Kaufmann: Wir definieren die Initiative ganz klar als Interessenvertretung für Anbieter von Managed Public Cloud Services. Ihre Dienste müssen Public-Cloud-Infrastrukturen aufsetzen. Hierzu gehören zum Beispiel Softwareentwickler, Managed Services Provider, Beratungsfirmen oder Anbieter für Trainings. Außerdem können Unternehmen unabhängig von einer Mitgliedschaft unsere Initiative mit einem Sponsoring unterstützen und einen Vertreter zur Wahl im Beirat vorschlagen. Alle weiteren Informationen finden Interessierte unter www.eurocloud.de/cloudnative.
Dr. Nils Kaufmann ist Geschäftsführer des Cloud-Startups Innovations-ON, Co-Founder von cloudbuddies und Ideengeber der Initiative. Aufgrund seiner Erfahrungen im deutschen Cloud-Markt will Kaufmann zusammen mit Euro-Cloud die Vernetzung unter Cloud-Native-Anbietern stärken und mehr Sicht-barkeit hierzulande verschaffen.
Thomas Noglik ist Vorstand bei EuroCloud und Geschäftsführer bei Cloud Mates. Mit seiner langjährigen Branchenexpertise verstärkt Noglik besonders die Verbandsarbeit im Segment Managed Services und Cloud Provider.